Montag, 26. September 2011

Liebe Mama...



Quelle: Pixelio - Fotograf: Peter Hebgen

Nun bist du schon 2 Jahre tot.

Die Zeit vergeht so schnell…
Ich habe das Gefühl,
als läge es schon viel länger zurück,
dass du von uns gingst.


Mein Bild von dir ist noch lebendig, 
wenngleich es bereits beginnt zu verblassen
und sich von mir zu entfernen, Stück für Stück.
Unwirklich, wie ein altes Foto,
dass zu lange in der Sonne gelegen hat.



Kurz blitzen sie auf, die letzten, innigen Momente mit dir,
wenn wir auf deinem damals erst neu gekauften Schlafsofa saßen,
von dem du immer behauptet hast,
die Sprungfedern kämen durch die Polsterung hindurch,
und drückten und schmerzten dich im Liegen,
so dass du nicht hast schlafen können.


In Wahrheit war es dein alter, ausgemergelter Körper, 
der dich so empfindsam werden ließ, und der böse Magenkrebs, 
der dich längst peinigte und von innen auffraß
und von dem keiner von uns etwas ahnte.
Nur du allein wusstest es – irgendwie,

auch ohne Diagnose und Befund.


Und du blicktest in Richtung Tod und littest Schmerzen, 
die wir dir nicht abnehmen konnten
und vor denen wir Kinder kapitulierten.
Es gab Zeiten, da waren wir fast froh,
die Tür zu deinem Häuschen hinter uns zumachen zu können,

um nicht eingefangen zu werden
von dieser Hilflosigkeit und der Sorge um dich.


Doch auch du strecktest die Waffen vor dem Leben. 
„Ich habe schon die längste Zeit gelebt…!“, waren Deine Worte, 
die ich in den letzten Monaten immer öfter zu hören bekommen hatte.
Der scharfe Wind des Lebens zerrte immer mehr an Dir,
einer Frau, die einmal groß und schön gewesen war,
mit vollem Haar und vollem Busen,
strahlendem Lächeln und schönen Händen,
mit einem Willen, der so stark war wie ein Baum,
manchmal hart und unerbittlich wie ein Felsen,
aber auch zärtlich und einfühlsam konntest du sein –
wenn du es nur wolltest.

Nicht immer einfach warst du, Mama.


Zuletzt schwierig und verwirrt, hilflos und verzweifelt.
Allzu schnell gabst du anderen die Schuld für das, 
was in deinem Leben schief gelaufen war.
Du hattest es nicht leicht, doch andererseits: du wolltest es so, 
und du duldetest keinen Widerspruch!
Dennoch liebten wir dich und lieben dich noch immer…



Deine Stimme ist mir recht lebhaft im Ohr geblieben,

und manchmal höre ich in mich hinein,
nehme das verblassende Bild von dir mit dazu,
dass vor meinem inneren Auge erscheint,
und versuche, es festzuhalten und zusammenzufügen
zu einem realistischen Eindruck.

Doch mit jedem Mal fällt es mir schwerer, 
diesen „Clip“ in mir abspielen zu lassen.
Er wird immer kürzer, immer blasser, immer bruchstückhafter.
Denn es fehlen genau die Attribute, 
die ihn „lebendiger“ machen könnten.
Dein Lachen, dein Duft, Dein Blick,
der in mich hineinsehen konnte wie in ein offenes Buch…


Wo bist du nur jetzt?



Ich wünsche, ich könnte glauben, dass du immer bei uns wärst.
Dennoch zweifle ich und bange ich um dich.
Mein Beten gibt mir nur wenig Trost.


Ich vermisse dich sehr.

Und dann schieben sich die Bilder
von deinem Sterben vor das Selbstmitleid,
zeigen mir wieder deinen Schmerzen,
dein Jammern und deine Weigerung,
sich dem zu fügen, was sie in der Klinik mit dir machten,
um dich am dünnen Lebensfaden zu halten, dich zu retten,
dich zusammen zu flicken in deinem Innern,
obwohl alles schon vergebens war. Sie wussten es bereits.
Wir nicht. Wir hofften noch immer und ich war sicher, 
du kämst noch mal heim, in dein kleines Häuschen, 
wo die Sonnenblumen vor dem Fenster
im Wind nickten und auf dich warteten.


Du wehrtest dich, warst trotzig wie ein störrisches Kind, 
und gleichzeitig hilflos wie ein altes, gebrochenes Zweiglein, 
dass nie mehr würde zusammenwachsen können. 
„Nun geht’s ans Sterben!“ hattest du mir zugeflüstert
und mir flehend in die Augen gesehen, 
so, als könnte ich etwas daran ändern.


Natürlich habe ich künstlich gelacht und gesagt:
„Quatsch, Mama, du kommst wieder heim –
du musst es nur wirklich wollen!“

Ob das etwas geändert hätte?
Ach nein, du warst schon zu todkrank, 
als dass du noch einmal hättest nachhause kommen dürfen.
Zu lange hattest du gewartet.
Hattest den Ärzten nur scheinbar ein Schnippchen geschlagen, 
bis es nun zu spät geworden war für eine Behandlung.

Und ich habe mich so verhalten, wie ich mich nur verhalten konnte.
Ich war machtlos und verschreckt von diesem Leiden, 
dem ich mich nun unvermittelt gegenüber sah.

All die tollen und klugen Worte, dich ich bis zu diesem Moment
zu anderen Menschen leichtfertig und scheinbar weise gesprochen hatte…
Hier waren sie vergeblich, angesichts deines bevorstehenden Todes, 
der unerbittlich näher rückte, jeden Tag, jede Stunde einen Schritt näher.


Draußen schien nochmal kräftig die Sonne,
sommerlich warm für einen September.

Als wollte sie dir eine Abschlussvorstellung geben.
Feine Schweißperlen erschienen auf deiner grauen Stirn, 
über deinen einst so schönen Augen, die du nicht mehr öffnen wolltest: 
„Das Licht ist hier so grell!“, sagtest du nur und kehrtest dich bereits nach innen. 
„Da hinten, in der Ecke, stehen sie schon und warten auf mich, 
zwei dunkel gekleidete Männer! Sie denken, ich sehe sie nicht – pah!
Sie werden mich holen kommen – wenn es soweit ist…!“


Ich fühlte einen Stich im Bauch und das Grauen packte mich.

Ich wusste, dass wir dich schon verloren hatten, zu diesem Zeitpunkt.

Ich, als Krankenschwester, wusste sehr wohl, wie Sterben aussah.
Nur, wie grauenvoll das Sterben der eigenen Mutter sein würde, ahnte ich nicht.
Nun bist du nicht mehr da. Dein Häuschen bleibt leer für immer.


Wir Kinder geben dich nun frei, liebe Mama!


Niedergelegt sei die Trauer und an ihre Stelle trete die Vorfreude auf das Wiedersehn!

Lebe wohl im Jenseits, wo immer die Vögel singen und die Blumen blühen, 

ohne sie vorher mühsam pflanzen zu müssen...


Marie-Therese Marquart