Mittwoch, 7. Januar 2009

Die Bürde des Verheimlichens

Keiner darf was merken.
Niemandem etwas erzählen, nicht mal im Vertrauen.
Sich nichts anmerken lassen.
Hinter dem Berg halten.
So tun, als ob.
Lügen, wenn es sein muss.
Theater spielen, wenn die Situation es verlangt.
Alle zum Narren halten.
Lachen, wenn Dir nicht zum Lachen zumute ist.
Dich total verstellen.
Nicht mehr Du selbst sein.
Dich selbst völlig verleugnen.

Nur - wenn Du allein bist,
dann willst Du es am liebsten laut herausschreien,
diese Ungerechtigkeit,
diese Angst, diese Einsamkeit!

Aber andererseits...
wer sollte Dir schon helfen?
Keiner weiß doch was.



Meine Erfahrungen:

Jeder, der mit einem Alkoholkranken lebt, kennt das.
Die schmale Gradwanderung zwischen Scham und Mitwisserschaft,
zwischen Kontrolle und Verzweiflung.
All die unaussprechlichen Vorkommnisse und Szenen.
Die Angst vor dem, wie und was die Leute reden könnten,
ist zu groß. Und ich war wirklich gut im Verheimlichen.
Lange Zeit...

So wird die Mauer, hinter der man sich verschanzt,
immer höher, immer dicker.
Bald dringt kein Laut mehr nach draussen...

Wir vier, die Kinder, ihr alkoholkranker Vater und ich,
lebten wie in einer seelischen Festung.
Ich schottete mich ab, so gut es ging.
Diejenigen, die Bescheid wußten, gehörten fast alle zur Familie.
Doch aus sie verloren keine Worte darüber.

Die anderen, draussen, ahnten vielleicht etwas.
Doch niemand sprach mich drauf an.
Die Scheu davor, was sie von mir erfahren könnten,
war wohl viel zu groß.

Wieviel wußten Sie von meinem "Elend"?
Doch - so genau wollte ich es gar nicht wissen!
Nur nicht näher darüber nachdenken.
Lieber Scheuklappen aufsetzen.
Das ist einfacher.

Einziges Verbindungsglied zur Außenwelt waren die Kinder,
mit ihrer befreienden, leichtsinnigen Unbekümmertheit.
Das machte mich einesteils glücklich,
andererseits machte mir gerade das Angst.
Diese Unbekümmertheit...

Kinder müssen natürlich raus,
schon um täglich zur Schule und in den Kindergarten zu gehen.
Doch sie brachten auch mal fremde Kinder mit,
Kinder, die uns nicht kannten.
Auch, wenn es "nur" Kinder waren, so musste ich
auch vor ihnen zwangsläufig "Theater spielen",
so tun, als wäre alles normal.
So war die lustige Mami, damit sie wiederkommen und
sich bei uns wohl fühlen sollten.

Mir war klar, dass fremde Kinder vielleicht ihren Eltern
zuhause erzählen würden,was bei uns daheim "abging".
Dass der "Papa" dort immer anwesend war.
Dass er sich manchmal eigenartig kindisch benahm.
Er undeutlich sprach, komisch roch,
und seine Augen immer "so müde" guckten.
Dafür haben Kinder ein feines Gespür.
Sie merken sofort, wenn etwas nicht normal,
nicht echt ist.

Auch wenn einige es recht lustig fanden,
dass mein Mann herumtorkelte und komische Sachen lallte,
vorgab, bei den Spielen der Kinder mitspielen zu wollen,
so merkten sie sehr schnell, wenn er es übertrieb.
Dann fühlten sie sich bedroht, konnten dieses Verhalten
nicht zuordnen und dann schreckten sie zurück
und - besuchten uns nicht mehr.
Wollten Sie oder durften sie uns nicht besuchen?

Einmal, im Sommer, setzte sich mein Mann plötzlich zu den Kindern
ins Planschbecken. Er tat, als wäre er wasserscheu und fuchtelte
total übertrieben mit seinen dürren Armen herum.
Es war beschämend, für meine Kinder und auch für mich,
die am Fenster stand und kopfschüttelnd zusah,
wie er sich bei den Kleinen zum Affen machte.
Dies war eben seine Art, seinen angetrunkenen Zustand
zu kaschieren und sein unbeholfener Versuch,
Kontakt mit seinen Kindern aufzunehmen.
Falscher Ort - falscher Zeitpunkt!

Bald warfen sie ihn gemeinschaftlich aus dem Planschbecken
und beschwerten sich, dass er viel zuviel Platz einnehme.
Beleidigt zog er von dannen, legte sich kurzerhand
unter einen Baum und schlief dort ohne Ankündigung
seinen Rausch aus.
Verständnislos blickten ihm die Besucherkinder hinterher.

"Mein Gott!", dachte ich entsetzt. "Wenn die das zuhause erzählen!"

In fürchtete mich dauernd davor, dass meine Kinder
durch ihren alkoholkranken Vater diskriminiert,
ausgegrenzt werden könnten.
Sie waren schliesslich immer die Leidtragenden, diejenigen,
die nichts dafür konnten, dass ihr Vater trank.
Im Grunde war ich aber diejenige, die ihnen
diesen Vater ausgesucht hatte!
Warum nur...?

Was blieb mir weiter übrig, als dieses Trugbild von Familie
weiterhin aufrecht zu erhalten.
Und so beschönigte, verharmloste ich hartnäckig unsere Situation,
hoffte insgeheim, es möge irgendwann doch noch
ein Wunder geschehen und sich alles zum Guten wenden.

Mein Leben glich einer endlosen, schwarzen Perlenkette.
Jede Perle bedeutete ein weiterer, trister Tag,
an der Seite meines trinkenden Ehemannes.
Ich hangelte mich von einer Perle zu nächsten -
ohne das Ende jemals absehen zu können...

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