Ich arbeitete als junge Frau in einer Nervenklinik. Dort gab es auch Alkoholiker unter den Patienten. Die meisten kamen nur kurz zur Entgiftung und verschwanden nach sechs Wochen wieder. Keiner wusste, was aus ihnen geworden ist. Jeder vom Pflegepersonal machte sich darüber so seine eigenen Gedanken. Wir wussten aus Erfahrung, dass der Großteil von ihnen irgendwann wieder hier eingeliefert werden würde, mehr oder weniger am Ende.
An eine alkoholkranke Patientin erinnere ich mich jedoch noch heute, denn sie hat mich gepflegt!
Ja! Sie haben richtig gelesen! Ich habe als junge Krankenschwester auf der Station gearbeitet, wo sie eingeliefert wurde. Sie war völlig am Ende! Eine echte "Schnapsdrossel"! Über hundert Dornkaat-Flaschen hatte man in ihrer Wohnung gefunden, als Nachbarn den Notarzt gerufen hatten. Tagelang hatte sie niemand mehr vor die Türe gehen sehen. Sie war Lehrerin von Beruf. Langes schwarzes Haar, bleiche, wächsern wirkende Haut. „Wie Schneewittchen!“, schoss es mir durch den Kopf, als ich sie zum ersten Mal sah. Nur die Lippen waren nicht "rot wie Blut", sondern schimmerten bläulich. Als wäre sie bereits tot, schoß es mir durch den Kopf, als ich in ihr schmales Gesicht blickte. Sie war sehr groß, wirkte geradezu grotesk, wie sie klapperdürr auf dem frisch bezogenen Bett lag, das weiße Krankenhausnachthemd hing an ihr, als würde darunter kein lebender Mensch sondern ein Holzgestell liegen. Ich konnte keine Wölbung einer Brust unter dem dünnen Baumwollstoff erkennen. Der Alkohol hatte sie schrecklich abmagern lassen. Statt dessen ragten die Schlüsselbeine eckig aus den Schultern. Sie musste einst schön gewesen sein. Davon zeugten die großen, von schwarzen, langen Wimpern und dunklen Augenringen umrandeten, braunen Augen. Sie dominierten in dem bereits sehr hohlwangigen Gesicht. Die meiste Zeit jedoch waren sie vor Erschöpfung geschlossen. Die Patientin befand sich im Delirium, letztes Stadium bei Alkoholikern, war nicht ansprechbar. Man erzählte sich, ein verheirateter Kollege hätte sie vor nicht allzu langer Zeit geschwängert und sie hernach gezwungen, abzutreiben. Daraufhin hat er sie sitzen lassen, tuschelten die Kollegen, die sie als Lehrkraft aus dem Ort kannten, wo sie zuletzt unterrichtet hatte.
Ihr Bett stellten sie gleich neben eine Durchgangs-Schwingtüre, die von einem Saal zum anderen führte, rechts in die Ecke. Dort hatte man sie im Blick, konnte stets ein Auge auf sie habenfalls es dramatisch werden sollte mit ihr. Sie begann bereits, heftig zu fantasieren, schlug wild um sich, weinte und schrie laut auf, behauptete, Spinnen würden über ihr Bett kriechen. Man konnte ihr Gewimmer nur sehr schlecht verstehen. Rückwärts stemmte sie sich gegen das Kopfteil ihres Krankenbettes und robbte regelrecht an der Wand hoch vor Angst vor dem vermeintlichen Getier mit weit aufgerissenen Augen und hochgezogenen Augenbrauen. Ich folgte ihrem Blick, neugierig, das zu sehen was sie sah. Doch ich konnte nichts entdecken! Sie sehen immer das, wovor sie sich am meisten gruseln, sagten mir die Kolleginnen. Sie mussten es wissen, hatten schon genug von der Sorte erlebt. Man gab ihr schließlich ein sehr starkes Beruhigungsmittel. Sie schlief. Aber nur kurz. Dann ging der Wahn von vorne los. Schweißperlen glitzerten auf ihrer Stirn und das lange schwarze Haar klebte ihr in Strähnen im Gesicht. Ich holte einen Waschlappen, wischte ihr über die Stirn und hob sie wieder zurück ins Bett, was keine allzu große Anstrengung bedeutete. Sie wog etwas soviel, wie eine Zehnjährige. Ständig drohte sie heraus zu fallen. Da band man sie an weichen gepolsterten Lederriemen jeweils mit der linken Hand und dem linken Fußgelenk ans Bett. Schließlich durfte sie sich in einem unbeobachteten Augenblick nicht noch selbst Schaden zufügen, indem sie aus dem Bett stürzte und sich womöglich noch verletzte. Trotzdem schaffte sie es, das Bett von der Stelle zu rütteln und sich selbst bis zu zwanzigmal über den rechten Bettrand zu hieven. Ihr Handgelenk war bereits rot unterlaufen, während ihr rechter Arm und ihr rechtes Bein bis über den Rand hinaus baumelten. Das Hemd bedeckte den dürren, gepeinigten Körper schon lange nicht mehr. Sehr schnell merkte ich, dass da nur eines half: Immer wieder zurück ins Bett heben und erst gar nicht mitzählen, wie oft! Die ersten zehn Mal etwa bemerkte ich keine Reaktion. Doch irgendwann da sah sie mich an. Zumindest versuchte sie es und ihr wirrer Blick suchte mein Gesicht. Wieder kam der gnädige Waschlappen und wischte ihr Schweiß und Strähnen aus dem Gesicht. Sie schloss die Augen und genoss die Geste der Reinigung. Langsam wurde sie ruhiger und irgendwann konnte sie sogar einschlafen. „Sie kriegt das alles gar nicht mit!“, beschwichtigte mich meine Kollegin. „Mach dir keine Gedanken darüber, iss nun mal so!“ Trotzdem setzte ich meine Pflege fort und baute die „Wache“ über „Schneewittchen“ geschickt in meine täglichen Gänge und Pflichten mit ein.
Und schon bald erwachte sie aus ihrem Delirium und fing an zu sprechen und zu essen. Traurig stellte ich fest, dass sie nur noch wenige Zähne im Mund hatte. Der Alkohol hatte wahren Raubbau an ihrem eigentlich noch nicht alten Körper verübt. Sie musste erst um die 35 Jahre alt gewesen sein. Sie fragte mich nach meinem Namen. Fortan ließ sie keine Gelegenheit aus, mich beim Namen zu nennen und nun bot sie mir ihre Hilfe an, wo immer sie konnte mit den bescheidenen Mitteln, die einer Patientin in ihrer körperlichen Verfassung zur Verfügung standen. Ich musste lächeln. Hatte sie doch noch immer genug mit ihrer eigenen Genesung zu tun.
Doch da wurde ich unvermittelt krank. Eine schwere Grippe packte mich mitten im Nachtdienst. Eine fürchterliche Übelkeit und peinigende Schwindelattacken suchten mich heim. Obwohl ich nach Hilfe rief und die Schwester Oberin von meinem Zustand unterrichtete, wollte die mir nicht glauben. „Jetzt haben sie sich schon mal zum Nachtdienst einteilen lassen, jetzt machen sie ihn auch gefälligst fertig, mein Fräulein!“, schnauzte sie mich am Telefon an. Von Stunde zu Stunde erging es mir schlechter. Zusehends verfiel ich in einen Dämmerschlaf und bekam vom Stationsgeschehen nichts mit und – ich war alleine! Ich wagte nicht daran zu denken, was während meiner Unfähigkeit, meinem Dienst nachzugehen, alles geschehen konnte. Doch ich rechnete nicht mit „Schneewittchen“! Sie übernahm das Regiment. Tat sich mit noch zwei anderen kräftigen Patientinnen zusammen und „schmiss“ die Nachtschicht. Ganz nebenbei kümmerte sie sich rührend um mich, hielt mir die Nierenschale unter die Nase und wischte mir die Stirn – gerade so, wie ich es getan hatte, als sie im Delirium gewesen war. „Keine Sorge, Schwester Marianne! Ich bin bei Ihnen! Ich habe nicht vergessen, dass sie mir auch die Stirn gewischt und mich mindestens tausendmal ins Bett zurück gehoben haben!“
Seitdem bin ich überzeugt, dass jede gute Tat, und mag sie noch so gering und beiläufig erscheinen, weder unbemerkt oder ungedankt bleibt.
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