Ich musste jeden Tag die U-Bahn nehmen, überquerte
dabei zwangsläufig einen unterirdischen Platz,
von dem aus man zu den unterschiedlichen
Fahrtrichtungen und Bahnsteigen gelangte.
Hätte ich einen anderen Weg nehmen können,
ich hätte es getan.
Der Grund waren die Obdachlosen.
Da saßen sie wieder, an der rechten, gefliesten Wand entlang,
immer die Gleichen. Einige waren mir schon vom Sehen her
bekannter als andere. Ich ging automatisch schneller.
Gänsehaut überlief meinen Rücken.
Zwiespältige Gefühle überkamen mich.
Im Grunde fürchtete mich irgendwie vor ihnen, vor dem,
wie sie leben. Sie machten mir einfach Angst
mit ihrem lauten Gegröle, ihren großen, meist schwarzen Hunden,
die nicht selten wegen einem versehentlich zu Boden fallenden Bissen
direkt aufeinander losgingen.
Dennoch übten diese Menschen eine eigenartige Anziehung
auf mich aus. War es die Freiheit, die sie für sich selbst
in Anspruch nahmen, die Unabhängigkeit, die Fähigkeit,
sich abgenabelt zu haben vom Rest der Welt,
die weiterhin so sittsam ihren Lauf nahm und besser
ignorierte, dass es sie gab –
die „Penner“, die sich keiner Ordnung beugten?
Allen Widrigkeiten zum Trotz
tapfer ihre Stellung hielten, draussen.
Doch war es wohl nur Mitleid, das ich für sie empfand
und anschließend Beschämung darüber, dass Menschen
bei uns so leben müssen. Wo ist denn da unser Staat?
Warum hilft ihnen denn keiner?
Mir wurde schlecht. Ich hatte im Grunde nur Angst davor,
dass auch mich solch ein Schicksal ereilen könnte...
Ich sah kurz hinüber zu ihnen, mein flüchtiger Blick
schweifte über fast leere Schnapsflaschen,
schmuddelige Plastiktüten, Essensreste, zerrissene Klamotten.
Der eine hatte seine verbeulten Schuhe ausgezogen und zupfte nun
an seinen löchrigen Socken herum, so, als müsse er um das fürchten,
was sich darunter befand. Kantige Füße mit krummen, blau angelaufenen
Zehen kamen zögernd zum Vorschein. Der Typ direkt daneben sah ihm zu
und drehte sich mit zittrigen Fingern eine dünne, krumme Zigarette aus den
letzten Tabakbröseln, die sein Beutel noch hergab.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sein mochte, so zu leben.
Tagsüber würde es noch einigermaßen erträglich sein, überlegte ich.
Doch wenn die Nacht kam, wo blieben sie dann alle? Wo schliefen Sie?
Gab es für sie so was wie Abendbrot?
Wo blieben sie im Winter, bei dieser unbarmherzigen Kälte der Strasse.
Lagen sie auf verschneiten und eisverkrusteten Böden oder Parkbänken...
Ein dumpfer Druck machte sich jedes Mal bei diesen Überlegungen
in der Magengegend bemerkbar, die körperliche Reaktion auf den
ohnmächtigen Wunsch, diese Ungerechtigkeit ändern zu können,
es einfach nicht mehr zuzulassen, dass es so etwas bei uns gab.
Aber gab es nicht noch weitaus schlimmeres Unrecht auf dieser Welt?
Unrecht, an dem wir ebenfalls vorbeigehen, vorbeisehen, vorbeihören,
es schön reden, und nichts daran ändern wollen, ändern können,
ging es mir durch den Kopf.
Doch wer war ich, dass ich hätte Einfluss nehmen können
auf das Leben dieser Menschen? Was hätte ich denn für sie tun können?
Ich? Die manchmal mit ihrem eigenen, simplen, kleinen Leben
nicht zurande kam, wollte andere auf den „rechten Weg“ bringen?
Da war es wieder, mein Helfersyndrom!
Sie waren ihr Obdach-los-geworden, lebten draußen, ungeschützt,
unerwünscht, unwillkommen, und dennoch frei und unabhängig.
Eine Freiheit und Unabhängigkeit, von der wir, die wir bis über
beide Ohren im schützenden Mäntelchen unserer geordneten
Zivilisation stecken, nichts erahnen.
Die dort haben irgendwann das Beste daraus gemacht,
aus dem Ausgestoßen-sein, dem Unerwünscht-sein,
dem Mittellos-sein, dem Nicht-versichert-sein, dem Heimatlos-sein...
„Verdammt! Es sind Menschen, wie wir!“, denke ich und ich beschließe,
etwas zu tun für sie. Bei der nächsten Gelegenheit, nehme ich mir vor,
und langsam gehe zu meinem Bahnsteig, damit ich meine U-Bahn nicht versäume...
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